Unabhängige Übersetzung. Von Carlos Soto Román

Übersetzung: Petra Strien

 

Zu Beginn meines Exposés möchte ich mich erst einmal gebührend vorstellen. Da diese Kriterien unvermeidlich das Profil meiner Präsentation abstecken werden, scheint mir, ich kann nichts anderes tun, als so ehrlich und direkt wie möglich zu sein. Mein Name ist Carlos Soto Román, ich bin pharmazeutischer Chemiker von Beruf, Schriftsteller, Dichter, Künstler; ich übersetze Lyrik, bin Chilene (somit hier an diesem Ort ein Fremder), habe einige Jahre in einem Land gelebt, wo ich mit meiner Muttersprache allein war, und entbehre jeglicher akademischen oder institutionellen Bindung.

Besagter Auslandsaufenthalt bot mir die Chance, die Wissenschaft, d.h. die Pharmazie, vorübergehend beiseitezulegen und mich voll und ganz der Lyrik zu widmen. Zwar habe ich im Zuge meiner beruflichen Laufbahn (die biomedizinische Forschung) meinen Magister in Bioethik gemacht, doch meine eigentliche Motivation war ein Lyrikband, an dem ich schrieb und für den ich einige philosophische Aspekte vertiefen musste. Neben meinen Studien tauchte ich voll und ganz in die Lyrikszene von Philadelphia ein, das mir zur neuen Heimat wurde. Dort wurde ich Mitglied eines Dichterkollektivs, konnte Lesungen und Events organisieren und die Verbesserung meiner Sprachkenntnisse mit der Entdeckung neuer und klassischer Autor:innen jener Tradition sowie der steten Kommunikation und Interaktion mit Kunstschaffenden und Künstler:innrn verbinden, woraus unmerklich eine neue Gemeinschaft erwuchs.

Vor fast zehn Jahren war ich zum „One Makes Many“-Festival in Raleigh/Durham, organisiert von der Duke University und der Universität von North Carolina, zu einem Vortrag zum Thema Übersetzen eingeladen, und vor exakt drei Jahren hielt ich eine Rede auf einem von der Universität Finis Terrae und der Universität von Santiago de Chile veranstalteten Übersetzer:innen-Kolloquium. Deshalb erscheint es mir sinnvoll, eine Parallele zu ziehen zwischen der Situation, wie ich sie unter den damaligen Umständen beschrieben habe, und der, wie sie sich heute darstellt.

Vor zehn Jahren befand sich die Krise des chilenischen Bildungssystems auf ihrem Höhepunkt. Die Studierenden gingen auf die Straße mit der Forderung nach kostenloser, qualitätsvoller Bildung, doch die damals angeprangerten Bildungsdefizite, vor allem im Bereich der Literatur, bestehen bis heute fort: ein geringes Leserinteresse gepaart mit mangelndem Lektüreverständnis. Neue Strategien taten not, um das Publikum wieder fürs Lesen zu begeistern. Doch das Problem wurde noch verschärft durch die teuren Buchpreise sowie die erschwerten Editionsbedingungen für das lokale Verlagswesen, geschwächt durch die großen internationalen Verlagskonzerne, die in ihren kommerziellen Ladenketten Bücher vertreiben wie jede andere Ware.

Nur wenige Jahre später eskalierte die Krise in Chile erneut nicht nur im Bildungswesen, sondern auch in der Politik und der Gesellschaft mit ungeahnter Heftigkeit und gelangte an einen Siedepunkt, an dem es kein Zurück mehr gab. So kam es, dass die Studierenden erneut auf die Straße gingen, um gegen eine Tariferhöhung der öffentlichen Transportmittel zu protestieren. Sie stürmten die Drehkreuze und besetzten die Metrostationen, bis die sozialen Unruhen in wenigen Tagen unausweichlich das gesamte Land erfassten, und seit der Diktatur unterdrückte Kräfte, Ängste, Frustrationen und Wunden freisetzte, Probleme, die zu lösen, die inkompetenten Regierungen des politischen Wandels, der sogenannten Transition, nicht in der Lage gewesen waren. Später kam noch die Pandemie hinzu, der Lockdown, die Finanzkrise, und wieder waren da die Angst und das Misstrauen, was die Unzufriedenheit, die Unruhe, das Unbehagen und die Ungewissheit noch weiter verschärfte.

In diesem Kontext über Übersetzung zu reden, ist nicht leicht. Übersetzung im Sinne eines seriösen, systematischen Betätigungsfelds war zumindest vor zehn oder fünfzehn Jahren in Chile praktisch inexistent. Warum? In erster Linie, weil es keine Mittel gab, um Übersetzungen anzufertigen, denn als Geschäftsmodell ist es riskant und wenig profitabel, die heimischen Verlage hatten kein Geld, um Autorenrechte zu bezahlen, und konnten mit den internationalen Verlagen (wie Planeta, Alfaguara, Random House, Anagrama) nicht mithalten. Obwohl die Akademie einen kleinen Kreis unterhielt, der weder über die nötigen Mittel noch den Rückhalt für eine einschlägige Legitimierung verfügte, ist die mühselige Arbeit der Übersetzung von Lyrik in Chile ausschließlich der Hingabe einiger weniger Personen (wie Rodrigo Olavarría und seiner Arbeit zu Allen Ginsberg oder Verónica Zondek und ihre Übertragungen von Derek Walcott, June Jordan und Emily Dickinson, um nur wenige zu nennen) zu verdanken, die das Feld und die Aufgabe des Übersetzens als eine fast spirituelle Tätigkeit begriffen, die kaum vergütet oder belohnt wird, außer durch die Freude, das übersetzte Werk zu publizieren, was sie oft genug selber teilweise oder ganz finanzieren mussten.

In puncto Übersetzungen lebte Chile hauptsächlich von dem, was in Spanien und anderen Ländern mit einem ausgereiften Verlagswesen, wie Mexiko und Argentinien, übersetzt wurde, ein Umstand, der ein merkwürdiges Monopol etablierte, wo das, was übersetzt (und folglich auch gelesen) wird, kommerziellen Gesetzen folgt, die sich bereits auf den unterschiedlichsten Absatzmärkten bewährt haben und sich nicht am spezifischen Interesse oder an der intellektuellen Neugier der heimischen Kultur orientieren, was tiefgreifende Lücken, Mängel und Versäumnisse zur Folge hatte.

Als Dichter war es das, was mich nach meiner Ankunft in den USA, wo ich fünf Jahre lang gelebt habe, am meisten auffiel: die ungeheure Menge an Autor:innen und Werken, von denen man in Chile keine Kenntnis hatte (Charles Reznikoff, George Oppen, Charles Olson, Jack Spicer, Frank O’Hara, Diane Di Prima, Susan Howe, Lorine Niedecker, Alice Notley und andere), einfach weil Übersetzungen ihrer Bücher in Chile nicht erhältlich waren. Zugleich war ich erstaunt, dass englische Übersetzungen chilenischer Dichter:innen, obwohl Chile sich rühmt, exzellente Poet:innen von internationalem Rang hervorgebracht zu haben, deren Präsenz in englischer Übersetzung man für unverzichtbar erachten würde (wie Rodrigo Lira, Jorge Teillier, Juan Luis Martínez, Gonzalo Millán, Carmen Berenguer, Elvira Hernández, Soledad Fariña), fast komplett fehlten.

Ich fing an, mich nach den Gründen für diese Lücke zu fragen und nach der Logik hinter dieser Ungerechtigkeit.

Sich mit der Frage zu beschäftigen, aus welcher Sprache übersetzt wird und warum, ist eine komplexe Angelegenheit. Die Kriterien, nach denen die Arbeiten ausgewählt werden, sind vielschichtig und oft willkürlich. Einen Konsens zu finden könnte so schwierig sein, wie zu einer einhelligen Definition dessen zu gelangen, was Übersetzen tatsächlich heißt. Klar scheint allerdings zu sein, dass die Diskussion diesbezüglich sich oft um die Frage dreht, wie man die Arbeit des Übersetzens angeht, während der Aspekt, was übersetzt werden soll, vernachlässigt wird. Konzepte wie Sprachfluss, Treue, domestication (Einbürgerung), Transparenz, Zugänglichkeit und selbst Ethos überfluten die Debatte, wobei es bevorzugt über das „wie“ geht, weniger über das „was“.

Doch es gibt einen Markt für Ideen und einen Markt für Übersetzung. Und während die Exotik und der Fetischismus (etwa die Kommodifizierung, also das Zur-Waren-Werden traumatischer Erlebnisse wie die Diktatur) bisweilen die Kriterien in den Vereinigten Staaten zu bestimmen scheinen, wäre die Aussicht auf kommerziellen Erfolg eine Motivation in Chile (der Fall der Bestseller); Literatur als Unterhaltung statt nachdenkliche Literatur, Bücher, nicht um die Realität zu begreifen, sondern, um ihr zu entfliehen. Leider ist mit dem, was sich nicht mit den Interessen der Verlage deckt, die die Übersetzungen finanzieren, kein Geschäft zu machen, denn die Gesetze des Marktes lauten, was sich nicht verkauft, hat keine Existenzberechtigung.

So gesehen darf die Ethik des Übersetzens sich nicht nur mit der Ästhetik paaren, sondern sollte auch die politischen Aspekte berücksichtigen, speziell jene, die das Potenzial der Übersetzung betreffen, uns andere Stimmen, andere Gemeinschaften vorzustellen, sie sichtbar und hörbar zu machen, neben ihrer Befähigung, andersartige Poetiken zu entmarginalisieren und Diskurse anzustoßen oder wieder zu aktivieren, die zu Unrecht ignoriert wurden oder versiegt sind.

Ammiel Alcalay (der nordamerikanische Dichter, Kritiker, Dozent und Übersetzer, Sohn sephardischer Juden aus Serbien) etwa sagt, ein Großteil dessen, was im Bereich der Übersetzung geschehen sei, könne man als literarischen Aktivismus verstehen, nicht nur als Rettungsakt für unterrepräsentierte Sprachen (in seinem speziellen Fall der slawischen Sprachen oder seiner Übersetzung des bosnischen Dichters Semezdin Mehmedinović),sondern auch als ein Wagnis, das man in der Absicht eingeht, diesen Worten neues Leben einzuhauchen, um ihnen die Chance zu bieten, von anderen Schriftsteller:innen rezipiert zu werden und als mögliche Option in ihre Werke einzugehen, damit ihre politische wie transformatorische Wirkungsmacht nicht verlorengeht. Und mit „politisch“ meint er auch den Einfluss, den jegliches Ereignis auf das Bewusstsein selbst haben kann.

Jen Hofer (Dichterin, Dolmetscherin, Übersetzerin, Erzieherin, Aktivistin, chapbook-Künstlerin und Gründerin der Initiative Antena) spricht von der Übersetzung als subversivem Diskurs, insofern sie die Macht hat, eine bestimmte Ordnung zu stören, zu verändern, zu untergraben. Das heutige nordamerikanische Englisch, das sie als „häufig von einem fremdenfeindlichen, monologischen, größenwahnsinnigen ‚English-only‘ kontaminiert“ sieht, weil es dem Rest der Welt eine Sprache von hegemonial definierter Totalität aufzwingen will, ist gewiss eine Ordnung, die es unter ethischen Gesichtspunkten verdient, unterlaufen zu werden.

2011 sahen wir zu unserem Erstaunen, wie die von der Occupy-Bewegung initiieren Massendemonstrationen in den USA der Demokratie wieder zu ihrem in Vergessenheit geratenen Recht verhalfen, indem sie jenen ihre Stimme zurückgaben, die das System ausschließt und diskriminiert. Merkwürdigerweise glichen diese Massenproteste auffällig jenen, die während der Wirtschaftskrise 2001 in Argentinien aufkamen, und man sah sie erneut nach dem Ausbruch der sozialen Unruhen in Chile, was zu den Diskussionen führte, in denen es darum geht, eine neue Verfassung zu entwerfen und festzuschreiben, Diskussionen, die nicht unbeeinflusst blieben von Dichtern wie Raúl Zurita, Elvira Hernández, José Ángel Cuevas, deren Verse in Form von Graffiti nun die Straßen von Santiago überfluteten. Im Rahmen dieser Logik von Unsichtbarkeit und Wiederbeleben, glaube ich, kann die Übersetzung auch als eine demokratische Geste der Wiedergutmachung und Solidarität fungieren.

Bedenkt man, dass Übersetzer:innen das Unbekannte zu Papier bringen, das, was in ihrer Sprache noch nicht geschrieben wurde, und dass sie befähigt sind, angesichts dieser Lücke einen Wunsch nach Gerechtigkeit zum Ausdruck zu bringen, scheint es mir an der Zeit zu sein, dass die Übersetzer aufhören, sich als Archäologen zu begreifen, die nur nach verborgenen Schätzen oder Schmuckstücken suchen und allein mit Edelsteinen handeln. Die Übersetzer:innen müssen anfangen, eine Empathie für den Zorn der Zeit zu entwickeln. Es tut not, einen Raum für die unabhängige, engagierte Übersetzung zu schaffen und zu festigen, frei von den Fesseln des Marktes, bereit, sich mit den Tendenzen und Launen der Akademie anzulegen.

Um zu übersetzen, sollte man sich zunächst fragen, was in einer Sprache fehlt, und im Sinne meiner Ausführungen brauchen wir Übersetzungen, die den Graben zwischen Kulturen verringern und zugleich gegen den Kolonialismus ankämpfen, indem sie die hegemoniale Rhetorik des Imperiums demontieren. In Chile fehlen zum Beispiel Übersetzungen zeitgenössischer brasilianischer, slawischer, orientalischer, arabischer Lyrik; wir wissen nicht, was sich literarisch in diesen Ländern tut. Brasilien ist das einzige Land Südamerikas, wo nicht Spanisch gesprochen wird, und doch wissen wir nur wenig über seine literarische Tradition. Andererseits hat Chile eine beachtliche Anzahl  von Haitianer:innen, die Folge einer der größten Flüchtlingsströme der vergangenen Jahre (neben denen der Deutschen und Kroaten gegen Ende des 19. Jahrhunderts), ausgelöst durch Chiles militärisch-humanitäre Intervention in Haiti seit 2004, und eine Massenflucht einer nicht Spanisch sprechenden Gemeinschaft, deren Dichter (wie Jean Jacques Pierre-Paul und Makanaky Adn) sich mit viel Anstrengungen und im harten Kampf gegen sprachliche Barrieren in der freien Szene Gehör zu verschaffen beginnt. Allerdings wissen wir absolut nichts über ihre Tradition, ihre Kultur und ihre Literatur. Auch gibt es wesentliche Lücken, was nicht nur die nordamerikanische Lyrik von den 1970er-Jahren aufwärts (etwa die Bewegungen der Objectivist Poetry, der Black Mountain, der New York School, der Language Poetry, um nur einige zu nennen) betrifft, sondern ebenso die afrikanische und arabische Literatur der Gegenwart und ihre jeweiligen Erfahrungen der Diaspora, aber vor allem brauchen wir dringend Alternativen für die Übersetzungen, die aus Spanien zu uns kommen und gespickt sind mit Lokalismen, die häufig selbst die Spanier nicht gebrauchen.

Dabei stellt sich die Frage, wie die Übersetzung aus einer Perspektive angehen, die nicht mit der eines großen Konzerns konformgeht. Auf der Suche nach einer Antwort komme ich noch einmal auf die Literaturszene und das Verlagswesen in Chile zurück. Seit mehreren Jahren ist in Chile ein Wandel im Gange, dank der Initiative kleiner, sogenannter unabhängiger Verlage sowie einiger Übersetzerkollektive, die sich erfolgreich als neue Freiräume für Künstler:innen und autonome Kulturschaffende etabliert haben, indem sie neue Diskurse sowie neue Formen, Literatur zu machen, eingeführt und befördert und es mit wenigen Mitteln, aber viel Kreativität, geschafft haben, der Logik des Marktes zu trotzen.

Was den Bereich der Verlage angeht, sind die Schwierigkeiten, in Ländern zu edieren und publizieren, die vor der Macht des Geldes und den Ritualen des Konsums kapitulieren und das Buch statt als Kulturgut als Ware verstehen, offensichtlich. Mitten in diesem feindlichen Szenario erscheint, wie der Dichter Jaime Pinos sagt „die unabhängige Publikation wie ein Paradox, das keine politische Rolle spielen, sondern per se Politik sein sollte.“

Ich sehe nicht, warum die unabhängige Übersetzung nicht denselben Weg beschreiten sollte. Tatsächlich tut sie das auch schon Schritt für Schritt. Das zeigen die Online-Zeitschriften, die sich der Förderung der Übersetzung verschrieben haben, wie seinerzeit Calque oder momentan das Circumference  Magazine, AsymptoteJournal.com und ManifoldCriticism.com, in den Vereinigten Staaten; oder die WebsiteVallejo & Co., die Online-Zeitschriften Elipsis und La Raza Cómica in Lateinamerika; die Verlags-Initiativen von Ugly Duckling und Carboard House Press in den USA; Fälle wie dieparasitenpresse, hochroth, das Verlagshaus Berlin oder der elif Verlag in Deutschland und die VerlageCuadro de Tiza und Pez Espiral in Chile, um nur einige zu nennen, die sich als Kollektiv etabliert und demokratischere Räume geöffnet haben, indem sie dem Status quo getrotzt, den Dialog dort, wo der Kanon einen Monolog verordnet hatte, wieder angestoßen und auf der Basis von Kooperation, wo der Markt Konkurrenz verlangt, neue Praktiken etabliert haben.

Aber es gibt noch andere Beispiele und Wege. An dieser Stelle halte ich einen Moment inne, um von einer interessanten Erfahrung einer Übersetzer:innengemeinschaft zu sprechen, die in Chile nach dem Ausbruch der sozialen Unruhen während der Pandemie entstand: das Kollektiv Frank Ocean.

Das Kollektiv Frank Ocean, eine Gruppe für Lyrik, Recherche, Übersetzung undAgitation, formiert sich zu Anfang des Jahres 2018 in Santiago de Chile als Workshop für Lyrik und Übersetzung. Seit Oktober 2019 sah dieses Kollektiv (dem elf junge Lyriker:innen und Übersetzer:innen angehören) im Kontext der sozialen Unruhen in Chile sich dringend gefordert, über neue Formen des Widerstands nachzudenken, um der Polizeigewalt entgegenzutreten, die nach den Demonstrationen vom 18. Oktober an Härte und Brutalität zunahm und Hunderte von Verletzten sowie einige Tote kostete.

Ausgehend von der Lyrikübersetzung gründete man einen gemeinsamen kunsthandwerklichen Raum mit dem Ziel, einige der Stimmen zu retten, die gegen die polizeilichen Repressalien aufbegehrt hatten, hauptsächlich Autor:innen, meist Migrant:innen afrikanischer Herkunft, Frauen und Mitglieder der Gruppe LGBTQ+, die als sprachliche oder gesellschaftliche Randgruppe ihr marginalisiertes Dasein einte.

Eine der ersten Aktionen des Kollektivs bestand darin, ihre Übersetzungen als Plakate in der Gegend rund um die Plaza Dignidad („Platz der Würde“, der neue Name, den die Plaza Italia mitten im Herzen von Santiago und Epizentrum aller Massenproteste während der Revolte erhielt) während einer dieser Demonstrationen aufzukleben, um so mit Lyrik und Solidarität den Protest auf den Straßen zu unterstützen. Später, als man sich mit der Corona-Pandemie konfrontiert sah, die die seit Jahrzehnten wachsende Ungleichheit in Chile noch verschärfte, sahen sie sich genötigt, neue Formate zu suchen, um ihre Arbeiten weiterhin zu verbreiten. So kam es, dass sie einen Account auf Instagram erstellten (https://www.instagram.com/colectivofrankocean/), wo sie begannen, die Übersetzungen in Form von Plakaten und Postern zu veröffentlichen, so wie die politische und soziale Situation es nach wie vor erforderte. Zwei Jahre nach den Unruhen ist so eine Reihe von Gedichten zusammengekommen gegen die Polizei, aber auch gegen Rassismus, gegen das Patriarchat und gegen häusliche Gewalt mit dem Ziel, in einen Dialog mit den Gegenden der Welt zu treten, die bedauerlicherweise die gleichen Formen von Gewalt erleben. (Zeiten / Dezimen des Leids / Zeiten / die manche betrachten / als wäre nichts / als sähen sie einen Film // Adriana Lisboa).

Aber man könnte auch den Übersetzerfonds des Consejo del Libro erwähnen, eine Fördermaßnahme der chilenischen Regierung, die, wenngleich natürlich verbesserbar, einen gewissen Wendepunkt markiert, indem sie ungefähr sechzig Übersetzungsprojekte pro Jahr unterstützt, was in dem Bereich ein nicht unerhebliches Wachstum und eine beträchtliche Vielfalt herbeigeführt hat. Nun wäre es interessant zu sehen, wie sich diese staatliche Förderung mit der Zeit entwickelt und konsolidiert, einschließlich möglicher Fonds zur Unterstützung der Rechteverwaltung und, warum nicht, eines Preises für die beste lokale Übersetzung pro Jahr. Zu nennen sind hier schließlich auch die Stipendien ausländischer Institutionen wie Botschaften oder Austauschprogramme für Übersetzer (wie das Übersetzerhaus Looren bei Zürich, das mit derFinanzierung von Arbeitsaufenthalten Übersetzern aus aller Welt einen Platz bietet, um an ihren Projekten zu arbeiten, und mit Workshops und Vorträgen ein breites Spektrum an Möglichkeiten der Weiterbildung und des Austauschs bereitstellt).

Ich persönlich habe mich bemüht, diese Aspekte in der Praxis zu berücksichtigen und sie in meine kuratorischen Entscheidungen als Übersetzer mit einzubeziehen. Obwohl man zurecht bedenken sollte, dass die Sprache auch ein Hemmnis sein kann; leider beherrsche ich nur die englische, weshalb ich nur aus dem Englischen übersetzen kann. Das sage ich aus einer gewissen Frustration heraus, denn natürlich würde ich gerne weitere Sprachen lernen, um sie lesen und übersetzen zu können. Allerdings glaube ich, mein Möglichstes getan zu habe, um andere, weniger repräsentierte Diskurse und Stimmen, die üblicherweise von chilenischen und lateinamerikanischen Übersetzern nicht ausgewählt werden, mit zu berücksichtigen. So gehören zu meinen aktuellen Übersetzungsprojekten etwa Texte des ägyptischen Lyrikers Maged Zaher, der libanesischen Lyrikerin Etel Adnan, der iranischen Lyrikerin Gazhal Mosadeq und nicht zuletzt auch der nordamerikanischen Lyrikerin chinesischer Herkunft, Victoria Chang. Sie alle schreiben zwar auf Englisch, aber sie repräsentieren eine Erfahrung der Diaspora, stammen aus Ländern mit uralten Kulturen und langen, überreichen literarischen Traditionen, die auf die eine oder andere Weise im großen Schmelztiegel der westlichen Kultur wunderbare und hochinteressante Diskursmischungen kreieren, von denen wir im tiefen Süden kaum etwas ahnen.

Gewiss ist es nicht einfach, allen Bedürfnissen der Übersetzer:innensparte zu genügen, vor allem in Krisenzeiten, wo die Kultur für die Regierenden keine Priorität zu haben scheint. Aber mit der Idee, die Verständigung zwischen den Kulturen zu fördern, indem man die Übersetzung des Apparats ausschaltet, der Untergeordnete untergeordnet hält, und diesen Akt als eine Einladung versteht, wirklich zuzuhören, was andere andernorts zu sagen haben, und zwar in der Form, in der sie beschlossen haben, es zu sagen, bietet sich die unabhängige Übersetzung als eine mögliche Alternative an, die dazu verhelfen kann, die Übersetzung als realen Raum der Begegnung und Artikulation sowie als einen Weg zur gegenseitigen Verständigung über die Unterschiede hinweg neu zu etablieren.