Poetische Übersetzung als Utopie - Übersetzung als poetische Utopie. Von Rike Bolte, Timo Berger und Alina Neumeyer

 

Utopie entsteht dort, wo von einem Topos, von einem Ort zu einem anderen gewechselt, oder der gegebene Ort transmutiert wird. Utopie ist Neu-Belebung und Neu-Bedeutung. Der plötzlich von Vögeln bevölkerte Fenstersims, den Maricela Guerrero in ihrem vorangestellten Grußwort beschreibt, ist eine solche Utopie – oder, besser noch, ein schon existierender Ort, der auf neue Weise wirksam wird und so sein Publikum findet: die Dichterin, die Katze der Dichterin, und womöglich Kinder, die die Vögel (und die Katze) in ihren neuen Begegnungsbereichen beobachten. Das Setting kristallisiert zu einem Begriff – dem der Begegnung – und Guerrero überträgt ihn auf den Gegenstand ihres Textes: das internationale Poesiefestival Latinale, dessen Schlaglicht im Jahr 2021 die Utopie ist. Die Dichterin ist darin geübt zu transformieren, was sie benennt, und so wird die Latinale im Handumdrehen zu einer Plattform, auf der sich Vögel, Fenster und vogelfressende Hausraubtiere zum Feiern zusammenfinden. Gegenstand der Feier: Poesie. Genauere Kennzeichen: Poesie einer komplexen Provenienz. Ausgangsorte: Lateinamerika und die Karibik. Zielorte: Berlin und andere deutsche Städte.

Um seinen 15. Geburtstag zu begehen, hat das Berliner Poesiefestival Latinale mit dem Schwerpunkt Translator’s Choice einen Fokus gewählt, dem es treuer nicht sein könnte: die poetische Übersetzung. Mit der Idee, diesen für das Festival essenziellen Akt der Übertragung ins Zentrum zu rücken und die Übersetzung als Kunst zu feiern, wurden für die Latinale 2021 renommierte deutsche Übersetzer:innen selbst als Kurator:innen tätig. Die Texte der von ihnen für die diesjährige Edition des Festivals ausgewählten Dichter:innen übertrugen sie anschließend in einem mehrmonatigen Werkstattprozess, in dem sie sich untereinander und mit der Festivalleitung austauschten. Das Resultat dieser spannenden Kooperation ist in unterschiedlichen Formaten auf den Festivalbühnen zu hören und in dem vorliegenden Buch nachzulesen.

Zusätzlich vereint die Anthologie Gedichte und ihre Übersetzungen von den vier Dichter:innen, die vergangenes Jahr aufgrund der Pandemie nur virtuell am Festival teilgenommen haben – mit dem Versprechen, 2021 noch einmal in Präsenz dabei zu sein. Dazu kommen aus dem Projekt Translator’s Choice Statements¹, die von Dichter:innen wie Übersetzer:innen unabhängig voneinander und doch zu ihrer gemeinsamen Arbeit angefertigt wurden und uns an dem fruchtbaren Dialog zwischen Autor:in und Übersetzer:in teilhaben lassen – immer im Bestreben, Sprachgrenzen zu überwinden, eine Brücke zwischen Welten zu bauen, mit Poesie einen Ort der Begegnung zu schaffen.

In diesem Sinn feiert die Latinale 2021 auch den Relaunch ihrer Website (www.latinale.org). Dort werden nicht nur die diesjährigen, sondern in einem stetig anwachsenden Archiv alle teilnehmenden Autor:innen und Übersetzer:innen vorgestellt sowie die für das Festival übertragenen Gedichte in ihrer Originalsprache und auf Deutsch nachzulesen sein. Es handelt sich um ein beachtliches Volumen an übersetzerischer Arbeit, die nun erstmals zugänglich wird. Sichtbar wird so auch eine Leidenschaft für die Literaturvermittlung zwischen Deutschland und Lateinamerika, der Karibik und der nordamerikanischen Diaspora sowie den spanisch- und portugiesischsprachigen Poesie-Gemeinschaften in Europa.

Das internationale Poesiefestival Latinale besteht also, wie die Dichtung, für die es sich einsetzt, aus überaus wirksamen Orten – und wird nicht müde, die Frage nach der (poetischen) Übersetzung auf immer wieder neue Weise zu beleuchten.

Wir danken den Übersetzer:innen und Dichter:innen, die sich auf das spannende Projekt Translator’s Choice eingelassen haben und freuen uns über die tollen Ergebnisse.

 

Rike Bolte und Timo Berger

Kurator:innen der Latinale

 

Alina Neumeyer

Projektleiterin von Translator's Choice